Das Nervensystem mitdenken –
Mit der Polyvagal-Theorie zu mentaler Gesundheit
Das Autonome Nervensystem (ANS) gilt im Wesentlichen als zweigeteilt: Das sympathische Nervensystem (SNS) ist der große Aktivator, der uns befähigt, unsere Alltagsanforderungen zu meistern. Vereinfacht gesagt, ist es wie ein Gaspedal. Der Gegenspieler dazu ist das parasympathische Nervensystem (PNS) das uns Regeneration und Erholung ermöglicht. Vereinfacht gesagt ist es wie ein Bremspedal. Die steigende Zahl von Stressfolgeerkrankungen, psychischen und psychosomatischen Problemen zeigt auf, dass viele Menschen aus dem Lot geraten sind und die „Nerven „plank liegen“. Was kann die Polyvagaltheorie zur psychischen Gesundheit beitragen?
Die Polyvagaltheorie als Weg der Prävention und der Heilung
Die 1994 von Stephen Porges entwickelte Polyvagaltheorie (PVT) und die daraus abgeleitete Schulung des Vagusnervs hat weltweit geradezu einen Hype ausgelöst und ist für den psychosozialen Kontext als auch für den gesamten Bereich der Prävention von großer Relevanz. In den USA und Kanada bezeichnen sich vielen Berater*innen, Therapeut*innen, auch Institutionen, wie Krankenhäuser oder Schulen als “polyvagal-informed“ und sehen in der Umsetzung der auf die PVT basierenden Erkenntnissen eine große Chance für die mentale Gesundheit der Bevölkerung.
Man könnte die Polyvagaltheorie von Porges als “science of safety“ bezeichnen. Mittels Neurozeption, welche Porges im Gegensatz zur bewussten Wahrnehmung, als “Erkennen ohne Gewahrsein“bezeichnet, ist unser Nervensystem beständigauf der Suche nach Signalen für Sicherheit und Verbundenheit (vgl. Stephen Porges, 2021). Sich sicher und verbunden zu fühlen ist nach Porges ein “biologischer Imperativ“und man kann die immense Bedeutung von Bindungssicherheit, gerade auch im Kindesalter, nicht hoch genug bewerten! Bedürfnisse nach Sicherheit und Verbundenheit sind auch meiner Erfahrung nach zentrale, und bisher völlig unterschätzte, Bedürfnisse von Menschen. In unserer unsicher und unüberschaubar gewordenen Welt und in Zeiten brüchiger menschlicher Bindungen ist es essenziell, dass wir als Gesellschaft diesen Grundbedürfnissen nach Sicherheit und Verbundenheit gerecht werden. Die PVT zeigt auf, dass das Nervensystem eine bedeutende Rolle bei der Bewältigung des normalen Alltags, aber eben auch bei Stressfolgeerkrankungen, Traumata, Burn-out und bei vielen anderen Krisen spielt, und sie bietet Methoden an, das entgleiste Nervensystem zu regulieren.
Die Hierarchie des autonomen Nervensystems (ANS) nach Stephen Porges
Nach Porges gibt es Hierarchien im Nervensystem, und er bezeichnet diese als die drei autonomen Zustände. Autonom deshalb, weil die vorrangigste Aufgabe unseres Nervensystems die Sicherung unseres Überlebens ist und unsere Reaktionen autonom, d.h. schon vor unserer Bewusstwerdung mittels Neurozeption eingeleitet werden. (vgl. Stephen Porges, 2017).
Die eingangs kurz beschriebene Zweiteilung des ANS wurde von Stepfen Porges erweitert. „Im Sinne der Polyvagaltheorie umfasst das ANS nicht mehr nur sympathische und parasympathische Komponenten, sondern auch drei Subsysteme, die man evolutionsbiologisch verstehen kann“ (vgl. Stephen Porges, 2017). Porges konstatiert, dass sich das Nervensystem im Zuge der Evolutionsgeschichte des Menschen weiterentwickelt hat. Von den zwölf Hirnnerven, die den Hirnstamm verlassen, ist der Vagusnerv (aus dem lateinischen Wort “vagari“: herumwandern, umherschweifen) der größte Hirnnerv, auch als der X Hirnnerv benannt. Der Vagusnerv ist weitverzweigt, mit anderen Hirnnerven verbunden, er enerviert die gesamte obere Körperhälfte und ist der Taktgeber für den Parasympathikus. In seiner Forschung fand Porges heraus, dass dieser Vagusnerv sich im Laufe der Evolution in zwei Stränge geteilt hat: in einen dorsalen (rückwärtigen) und einen ventralen (vorderen) Zweig. Der ventrale, auch “smarte“ Vagus genannt, ist für die soziale Interaktion, insbesondere für Bindung zuständig. Dieses Systems für soziale Verbundenheit (“social engagement system, SES“) befähigt Menschen zu Kommunikation, Empathie und Fürsorge und diese Qualitäten sind auch immer die von Menschen zuerst intendierten. Erst wenn keine Sicherheit und Verbundenheit und stattdessen Bedrohung wahrgenommen werden, kommen gemäß der Hierarchie des ANS andere Anteile des Nervensystems zum Tragen, wie das bereits schon erwähnte Sympathische Nervensystem (SNS), das uns vergleichbar mit einem Gaspedal zur Mobilisierung befähigt. Bei Herausforderungen, Bedrohungen oder Stressoren werden Vorgänge im Körper beschleunigt und große Mengen an Energie und Ressourcen bereitgestellt. Die Funktion des Sympathikus ist, vereinfacht gesagt, zu mobilisieren und den Körper für Aktionen wie “Fight or flight“zu befähigen. Aufgrund unseres Lebensstils (Reizüberflutung, Stress, Medienkonsum, Einsamkeit, Krisen usw.) ist unser SNS chronisch übererregt.
Das parasympathische Nervensystem (PNS) hingegen ist, wie schon erwähnt, vergleichbar mit einer Bremse. Vorgänge im Körper werden gebremst, regenerative Prozesse werden eingeleitet und “Rest an digest“ wird ermöglicht. Der Parasympathikus ist in unserer westlichen Welt oftmals unteraktiviert. Wir können jedoch durch gezielte Schulung des weitverzweigten Vagusnervs Stress bewältigen, zuRuhe, zu guten zwischenmenschlichen Beziehungen und mentaler Gesundheit finden.
Wenn allerdings unsere Neurozeption feststellt, dass weder Kommunikation und Verbindung, also das social engagement system (SES), noch Kampf oder Flucht (fight or flight)möglich sind, kommt der dorsale (rückwärtige) Vagus zum Tragen. Dieses System fährt uns runter. Es kommt zum „Erstarren“ (“freeze“,“shut down“)und in diesem Zustand fühlt man sich wie „eingefroren“, wehrlos und hilflos. Dies kommt nicht nur bei Traumatisierungen und Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS), sondern sehr viel öfter vor, als man bisher dachte. Der Schreck, die Erschütterung der traumatischen Erfahrung bleibt im Körper stecken, man verharrt bei gleichzeitiger hoher Erregung in der Immobilisation, was der Traumaforscher und Autor Gabor Mate in folgendem Zitat zum Ausdruck bringt: “Trauma in not just what happens to you, it is what happens inside of you“ (vgl. Gabor Mate, 2020). Es ist ratsam, in der psychosozialen Beratung das Nervensystem und den Körper mitzudenken.
Die Bedeutung der PVT für die Behandlung von traumatischen Erfahrungen
Die psychologische Forschung der letzten 20 Jahre hat entdeckt, dass es eine Vielzahl von traumatischen Belastungen bis hin zu veritablen Psychotraumata gibt. Nicht nur die Erfahrungen durch Monotraumata, wie Unfälle, Naturkatastrophen, Todesfälle usw. prägen sich im Nervensystem vieler Menschen ein. Viel zahlreicher und teilweise schwerwiegender und sind die sogenannten “man made desaster“, wie z.B. die weit verbreiteten Bindungs- und Entwicklungstraumata und die inter- und intragenerationelle Weitergabe von Trauma. Gerade bei der Behandlung von Traumata haben sich rein kognitiv arbeitende Beratungsmethoden als unzureichend erwiesen, da traumatische Erfahrungen im Nervensystem der Betroffenen gleichsam steckengeblieben sind und “reden nicht reicht“, wie namhafte Traumaforscher wie Bessel van der Kolk (vgl. Bessel van der Kolk, 2015) oder Peter Levine (vgl. Peter Levine, 1997 und 2021) beschreiben. Es braucht Methoden, die auch den Körper und das Nervensystem adressieren, wobei einfache Atemübungen, Embodiment-Übungen oder traumasensibles Yoga den Vagus-Nerv aktivieren und zu spürbaren Verbesserungen führen.
Regulation und Co-Regulation: Der Weg zu Sicherheit und Verbundenheit
Die amerikanische und von Porges authorisierte Therapeutin Deb Dana beschreibt die drei autonomen Zustände als sich abwechselnd und fließend. Wie beim Auf – und Absteigen auf einer Leiter wechseln wir in diese Zustände. Die große Chance für Wohlbefinden und Gesundheit liegt im Kennenlernen der eigenen drei autonomen Zustände und in der Entwicklung der Fähigkeit zur Selbst- und Co-Regulation. Menschen können sich bewusstwerden, in welchem Zustand sie sich gerade befinden. Dana nennt diesen Vorgang “mapping“ (Deb Dana, 2018) und sie meint damit tatsächlich eine Art Kartographierung des autonomen Zustandes, in dem man sich gerade befindet. Kann man seinen jeweiligen autonomen Zustand bewusst wahrnehmen, erkennt man mit der Zeit auch die “Trigger“, die einen in diese Zustände hineingeführt haben, ebenso wie die “Glimmer“ die einen aus den unangenehmen Zuständen der Übererregung (Mobilisation, Kampf und Fluchtmodus) und der Untererregung (Immobilisation, freeze, shut-down) wieder herausführen können. Dana spricht in diesem Zusammenhang von den 4 Rs (vgl. Deb Dana, 2018).
- Recognize des autonomen Zustandes
- Respect für die adaptive Reaktion des ANS
- Regulation bzw. Co-Regulation in einen zugewandten ventralen Zustand hinein
- Re-Story der Geschichte
Ziel der 4Rs ist, wieder in den angenehmen Zustand des ventralen Vagus, d.h. in den Zustand der Verbundenheit und der Sicherheit des social engagement systems(SES) zu gelangen. Dies ist der Vorgang der Regulation, unterschieden in Selbstregulation und Co-Regulation. Für die psychosoziale Beratung ist erstrebenswert, unseren Klient*innen mittels Co-Regulation zu dieser Selbstregulation zu verhelfen, damit sie in ihr “window of tolerance“ gelangen (vgl. Dan Siegel, 2020). Nur in diesem Toleranzfenster ist Lernen, Wachstum, Regeneration und Entwicklung möglich.
Die Vagus- Schule
Neben meiner Tätigkeit als psychosoziale Beraterin stehe ich seit Jahrzehnten als Lehrerin im Schuldienst. Daher sehe ich im pädagogischen, psychoedukativen und präventiven Ansatz eine große Chance und habe “Die Vagus-Schule“ in meiner freien Praxis in Graz gegründet. Fundierte psychosoziale Beratung wird mit achtsamkeitsbasierten Interventionen wie Atmung, Imaginationen, Affirmationen, mit körperorientierten Embodiment-Übungen, wie Haltungsübungen, Balanceübungen, Gesten und Gebärden, auch Summen und Tönen, mit traumasensiblen Yogahaltungen und eben mit gezielten Vagusnerv-Übungen verbunden. Krisengeschüttelte Klient*innen lernen im Einzel- oder Gruppensetting sich selbst wieder zu spüren und sich zu regulieren. Sie lernen zuerst ihre “bottom-up“-Prozesse zu erkennen, dann schließlich, diese zu verstehen und zu steuern, aus störenden Gedankenspiralen herauszukommen. Nach und nach sind sie dann zu “top-down“-Prozessen fähig, finden zu konstruktiven Lösungen und sind wieder oder erstmals “Herr/Frau im eigenen Haus“. Mit der Zeit können Klient*innen diese positiven Veränderungen auch in der Tat zu “verkörpern“.
Chancen und Möglichkeiten einer polyvagal-informierten psychosozialen Beratung
Abschließend soll noch einmal gemäß der PVT von Porges hervorgehoben werden, dass unser Nervensystem beständig in unserem Dienst steht und auf Suche nach Signalen von Sicherheit ist. Befinden wir uns in zwischenmenschlichen Konflikten, stecken wir in familiären Problemen, sind wir Mobbing, Abwertung oder ähnlichen Widrigkeiten ausgesetzt, erlebt unser ANS dies als Bedrohung. Dies kann mit der Zeit zu psychischen Krisen führen, aus denen die Menschen nicht mehr allein herausfinden. Kognitive Beratungsmethoden greifen manchmal zu kurz, weil “reden nicht immer reicht“. Der große Mehrwert der PVT liegt in der Psychoedukation. Menschen verstehen die Physiologie hinter der Psychologie und warum sie sich in den immer gleichen Mustern verfangen. Die Arbeit mit dem Körper und dem ANS stellen nicht nur in der psychosozialen Beratung, sondern auch im Bereich der Prävention, also in Bildungseinrichtungen, Betreuungsinstitutionen, betrieblicher Gesundheitsvorsorge usw. eine bisher völlig unterschätze Ressource für die mentale Gesundheit der Menschen dar, die es zu entdecken und zu nutzen gilt.
Literaturverzeichnis
Stephen Porges: Die Polyvagaltheorie und die Suche nach Sicherheit, Probst Verlag, Lichtenau, 2017.
Stephen Porges: Heilen mit der Polyvagaltheorie. Neuronales Training für Körper, Herz und Hirn, Probst Verlag, Lichtenau, 2021.
Porges Stephen, Seth Porges: Sicherheit und Heilung finden, Probst Verlag, Lichtenau, 2024.
Gabor Mate: Wenn der Körper nein sagt, Unimediaverlag, Kandern, 2020.
Dana Deb: Die Polyvagaltheorie in der Therapie, Probst Verlag, Lichtenau, 2018.
Bessel Van der Kolk: Verkörperter Schrecken, Probst Verlag, Lichtenau, 2015.
Peter Levine: Trauma-Heilung, Synthesis-Verlag, Essen, 1997.
Peter Levine: Sprache ohne Worte; Kösel-Verlag, München, 2021.
Dan Siegel: Gewahr sein, Arbor Verlag, Freiburg im Breisgau, 2020)

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